Tod, bevor das Leben beginnt
Ein Tabu im Wandel
»Jede Schwangere kennt die 12-Wochen-Regel. Bevor die 12. Schwangerschaftswoche erreicht ist, verkündet man nicht gerne überall das Erwarten eines Kindes, zu groß ist die Angst, es könnte doch noch etwas passieren. Tatsächlich enden rund 50 % aller Schwangerschaften durch eine Fehlgeburt, die meisten so früh, dass die Empfängnis noch gar nicht bemerkt wurde. 80 % der Fehlgeburten, bei denen Kinder mit einem Gewicht von unter 500 Gramm geboren werden, ereignen sich
im ersten Schwangerschaftsdrittel. Ab der 17. SSW sinkt das Risiko, noch eine Fehlgeburt zu erleiden, auf 2-3 %. Kommen Kinder danach tot zur Welt, spricht man von einer Totgeburt oder „stillen Geburt“. Ca. 3.500 Kinder werden jährlich in Deutschland still geboren oder sterben in den ersten sieben Lebenstagen (Quelle: Uniklinik Bonn).
„Gut gemeint“ ist leider nicht gut.
Als Gerda Palm vor 30 Jahren ihren voll ausgetragenen Sohn still zur Welt brachte, sollte sie das Kind nicht sehen, keinen Abschied nehmen, es nicht beerdigen. Die einzige sichtbare Erinnerung, die sie hat, ist ein Foto von ihrem schwangeren Bauch. „Gut gemeint“ hat es das Klinikpersonal mit ihr, zu der Zeit das übliche Vorgehen.
War es im 19. Jahrhundert noch üblich, sich auch von still geborenen Babys zu verabschieden und diese zwischen den Gräbern von Verwandten zu beerdingen, so ist dies im 20. Jahrhundert aus der Mode gekommen. Ein Nichtbeachten des Themas sollte schnell über den Verlust hinweghelfen. Bewirkt hat es das Gegenteil, denn „gut gemeint“ ist leider nicht gut, stattdessen entwickelten viele Eltern Horrorvorstellungen oder waren über lange Zeit traumatisiert, nicht nur durch das Zerplatzen von Vorstellungen, Träumen und Wünschen ans Leben, sondern auch, weil ein Abschied und damit ein Trauerprozess nicht stattfiden konnte.
1987 fiel Gerda Palm das Buch „Glücklose Schwangerschaft“ in die Hände. Da kam ihr die Idee, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Aus der Familienbildungsstätte, wo sie arbeitete, kannte sie ein paar Frauen, die Ähnliches erlebt hatten, und so gründete sie vor 27 Jahren ihre Beratung und Trauerbegleitung, aus der vor 20 Jahren auch der Verein „Verwaiste Eltern e. V. Aachen“ erwuchs. Petra Schmitz, heute Vorsitzende des Vereins, kam vor 10 Jahren ebenfalls nach Verlusterfahrungen zur Gruppe. Sie fand den Gedanken „Du bist nicht allein“ ermutigend, denn er barg auch die Erkenntnis „Du kannst das auch überstehen und überwinden und wieder Vertrauen fiden“. Dies wollen die beiden Frauen und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter bis heute den Eltern näherbringen.
Rund 40 Familien suchen pro Jahr Rat bei der Gruppe oder in Einzelberatung. Außerdem werden Hebammen und Klinikpersonal geschult, denn auch sie müssen sich oft unverhofft mit der Thematik auseinandersetzen und gefühlvoll damit umgehen. Positive Neuerungen Inzwischen ist viel erreicht worden – die Familien können sich im Krankenhaus in Ruhe verabschieden, das Kind halten, auf Wunsch Fotos machen oder Fußabdrücke nehmen. Außerdem gibt es inzwischen Sets mit Kleidung oder hübschen Einschlagtüchern auch für kleinste Babys unter 500 Gramm, die dann in ein winziges Körbchen gelegt werden. Ein kleines Erinnerungsstück aus dem Set bleibt im Anschluss bei der Familie. Alles wichtige Schritte, denn von Babys früherer Generationen gibt es kaum Beweise ihrer Existenz, was viele Eltern – vor allem die Mütter – noch Jahrzehnte später belastet.
Der Verein „Verwaiste Eltern e. V.“ hält sich ständig auf dem Laufenden, welche sinnvollen Neuerungen es gibt, und führt diese auch in der Region Aachen ein. Die Körbchen mit Kleidung stammen zum Beispiel von der Aktion „Schmetterlingskinder“ und werden auch im Aachener Klinikum vorgehalten, denn vielen Eltern war es ein Graus, ihre kleinen Kinder nackt beerdigen zu müssen. Gerda Palm weist zudem darauf hin, dass inzwischen auch Babys unter 500 Gramm beerdigt werden können und Eltern sie seit 2014 auch namentlich in das Stammbuch eingetragen lassen können. Für Babys, die nicht bestattet wurden, besteht die Möglichkeit, auch im Nachhinein einen kleinen Gedenkstein in einer Stele auf dem Westfriedhof anbringen zu lassen.
Tipps für Angehörige und Freunde
Immer wieder melden sich auch Familienmitglieder, Freunde oder Großeltern bei dem Verein Verwaiste Eltern e. V. Aachen und fragen, wie sie reagieren sollen, wenn eine Schwangerschaft nicht glücklich endet. Gerda Palm und Petra Schmitz haben die Erfahrungen der Eltern gesammelt und sind der einhelligen Meinung, am schlimmsten sei es, gar nicht zu reagieren und sich nicht mehr zu melden. Wem es möglich sei, der solle der Familie Anteilnahme zeigen, vielleicht auch gestehen „ich weiß nicht, was ich sagen soll“ und die Betroffenen erzählen lassen, sofern diese das Bedürfnis haben.
Verkneifen solle man sich in jedem Fall Kommentare wie „du bist doch noch so jung, du kannst doch noch ein Kind bekommen“ oder „du hast ja schon eins“. Nicht hilfreich sind auch Überlegungen wie „war ja besser so, es war ja krank“.
Die meisten Eltern freut es außerdem, wenn sie Erinnerungen zeigen können wie Fußabdrücke, Fotos, ein Stofftier – denn der Gedanke, dass niemand das Kind gekannt hat, ist für die Hinterbliebenen besonders schmerzvoll. In die Gruppe des Vereins und auch zu Einzelberatungen kommen heute keineswegs nur die Mütter. Viele Paare erscheinen gemeinsam und empfiden es als wohltuend zu erfahren, dass unterschiedliches Trauern bei Vätern und Müttern normal ist. Nach einer ersten Trauer-Symbiose – übrigens können sich auch die Väter nach Verlust krankschreiben lassen – geht die Entwicklung unterschiedlich weiter. Auch heute ist es so, dass die Väter meistens die „Kümmerer“ sind, sie müssen weitermachen und arbeiten, hören vielleicht „wie geht es deiner Frau“ und machen den Verlust mit Tod, bevor das Leben beginnt.
Ein Tabu im Wandel
Der Verein Verwaiste Eltern e. V. Aachen unterstützt seit 20 Jahren Familien, die ein Kind durch Fehlgeburt, Frühgeburt, Totgeburt, Säuglingstod oder Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen Gründen verloren haben. Birgit Franchy traf Gründerin Gerda Palm und die Vorsitzende Petra Schmitz anlässlich dieses Termins. Foto: Frank Petersen sich selbst aus, während die Frauen meist länger offen trauern, viel erzählen und vielleicht weinen wollen. Das birgt Konflkte und Krisen bis hin zur Trennung, wenn sich die Eltern nicht bewusst sind, dass diese unterschiedliche Entwicklung normal ist. Auf die Aufklärung des Vereins reagieren die meisten Paare deshalb beruhigt und geben sich mehr Zeit.
Die neuste Einrichtung in Aachen ist ein „Trauerbriefkasten“, diese Idee wurde aus Erlangen übernommen. Wer sich angesprochen fühlt und vielleicht bislang keinen Platz zum Trauern hat, kann auf dem Westfriedhof neben dem Gräberfeld und den Stelen für die früh- und totgeborenen Kinder einen Brief für sein verstorbenes Baby einwerfen.«
Bericht mit freundlicher Genehmigung des "Verlag um die Ecke", Birgit Franchy, veröffentlich in KingKalli August/September 2015